Reisebericht Jangtsekiang
von sfintu auf 06.06.2019
Rhein-Romantik auf Chinesisch
Was der Rhein für die Deutschen ist, ist der Jangtsekiang für die Chinesen. Das heißt, beide sind mehr als nur die längsten Ströme, mehr als nur die wirtschaftlichen Lebensadern. Sie sind nationale Symbole, Mythen, um die sich Legenden ranken, die große Lyriker besungen, berühmte Künstler gemalt und prestigebewusste Politiker durchschwommen haben.
Was für den Rhein das Tal der Loreley zwischen Rüdesheim und Koblenz ist, sind für den Jangtsekiang die Drei Schluchten zwischen Yichang (gesprochen: Ji-tscháng) und Chongqing (Tschung-tchíng). Seit dem Bau des größten - und vielleicht umstrittensten - Staudamms der Welt kann dieser Abschnitt auch von modernen Kreuzfahrtschiffen gefahrlos und ganzjährig befahren werden. Der bedeutendste Anbieter ist die chinesisch-amerikanische Gesellschaft Victoria Cruises, die auf dem längsten Strom Asiens eine Flotte von sieben Luxuslinern unterhält. Ein achter soll noch 2009 in Dienst gestellt werden. Drei bis vier Tage - je nachdem, ob stromabwärts oder stromaufwärts - benötigen die schwimmenden Fünf-Sterne-Hotels für die rund 600 Kilometer lange Strecke durch die malerischen Schluchten Xiling Xia (gesprochen: Chi-líng Chiá), Wu Xia (Wu Chiá) und Qutang Xia (Tchu-táng Chiá). Rhein-Romantik auf Chinesisch ist im Reise-Programm natürlich inbegriffen!
Während am Kai von Yichang noch die Begrüßungstrommeln für die letzten eintreffenden Passagiere verklingen, schlummern die anderen längst in ihren Kabinen. Erst am nächsten Morgen soll die "Victoria Anna" auf große Fahrt gehen. Mit 106 Metern Länge und einem Dienstalter von nur drei Jahren ist sie das derzeit größte und modernste Kreuzfahrtschiff auf dem Jangtsekiang. Und das wissen nicht nur einheimische, sondern auch amerikanische und deutsche Touristen zu schätzen. "Cruise Director" Dick Carpentier weiß warum.
Westlicher Einfluss an Bord
"Ich denke, Victoria kann sich besser auf westliche Passagiere einstellen. Wir haben eben beide: westliche und chinesische. Und die aus Amerika und Europa sehen vieles anders als die Chinesen. Sie verlangen einen speziellen Service, sie sind froh über den westlichen Einfluss an Bord – die sanitären Einrichtungen zum Beispiel, das Dekor und vor allem, dass Englisch gesprochen wird."
Englisch wird an Bord gesprochen, aber man sprickt auch Deutsch – ein paar Brocken zumindest.
In aller Herrgottsfrühe legt die "Victoria Anna" ab. Begleitet von Erläuterungen aus dem Bordlautsprecher, taucht sie in die östliche Xiling-Schlucht ein. Zwischen steil aufragenden Felswänden tuckern wir stromaufwärts, dem gewaltigen Staudamm von Sandouping entgegen. Mit einer Länge von 2,3 Kilometern und einer Höhe von 185 Metern ist er der größte der Welt. Ein notwendiges Projekt, meint unser chinesischer Guide Zhou Liping, der sich Mark nennt, weil das für Touristen leichter auszusprechen ist. Notwendig sei der Damm, um das Land mit Strom zu versorgen, um Überschwemmungen zu verhindern und die Schifffahrt zu erleichtern.
"In der Vergangenheit", sagt Mark, "war es sehr schwer für die Schiffe in den Schluchten. Es gab viele gefährliche Riffe und Strudel. Aber durch den Damm ist der Wasserstand gestiegen, das macht das Navigieren leichter. Und erst seit der Damm gebaut wurde, können Frachtschiffe die gesamte Strecke befahren von Wuhan bis Chongqing."
Aber der Staudamm war und ist immer noch heftig umstritten. Mehr als eine Million Menschen im Flutungsgebiet – meist einfache Bauern und Fischer – mussten ihre Dörfer verlassen und in neue, höher gelegene Siedlungen, umziehen. Viele davon gegen ihren Willen. Auch unser Guide und seine Familie zogen von der versunkenen Stadt Zigui nach Sandouping. Seine Eltern hätten sich noch nicht an die neue Umgebung gewöhnt, doch er selbst habe damit keine Probleme.
"Ich bin sehr froh, dass wir in die neue Stadt gezogen sind. Hier haben wir bessere Lebensbedingungen. Zum Beispiel hab’ ich einen neuen Job gefunden, wir haben moderne Häuser, Schulen und so weiter. Also, ich mag die Stadt sehr."
Auch unsere Befürchtung, durch den höheren Wasserstand des Jangtse könnten die Drei Schluchten an Reiz verloren haben, versucht Mark uns zu nehmen.
"In den Schluchten hat sich die Landschaft nur wenig verändert. Die Berge drumherum sind sehr hoch, bis zu 2.000 Meter. Das Wasser ist um rund 100 Meter gestiegen. Das sind nur ein paar Prozent."
Die Xiling-Schlucht
Um den westlichen Teil der Xiling-Schlucht zu erreichen, müssen wir erst mal die fünf Schleusenkammern am Staudamm passieren. Vier Stunden dauert die Prozedur. Zeit genug, um die Annehmlichkeiten unseres Luxusliners zu genießen: vielleicht ein Bad zu nehmen, zur Massage zu gehen oder in den Fitnessraum. Denn beim abendlichen Büfett warten reichlich Kalorien auf uns. Es gibt eine riesengroße Auswahl an Spezialitäten aus Ost und West.
"Auch manche der westlichen Passagiere wollen lieber chinesisches Essen", meint der Kreuzfahrt-Direktor. "Deshalb haben wir beides. Andere mögen zwar chinesisches Essen, stellen aber fest, dass es anders schmeckt, als sie es von zu Hause her kennen. Dann sind sie froh, dass sie auch einen Hamburger bekommen können oder Lasagne oder Spaghetti. Denn auch auf Reisen mögen viele lieber das essen, was sie von daheim gewöhnt sind."
Für Abwechslung ist jedenfalls gesorgt. Auch an Deck. Denn am folgenden Morgen schon haben wir die Xiling-Schlucht hinter uns gelassen und die Wu-Schlucht erreicht. Hier erlebt die Rhein-Romantik ihren ersten Höhepunkt: Der "Feenberg" Shennü Feng am Nordufer ist quasi die chinesische Antwort auf den Loreley-Felsens. Statt einer Nixe lebt hier allerdings die Göttin Yao Ji, und die reißt vorüber fahrende Schiffer nicht ins Verderben, sondern sorgt vielmehr für deren Schutz, erzählt unser weiblicher Bord-Guide Zhang Wenyi alias Rebecca:
"Immer wenn die Schiffer durch die Schlucht fahren, müssen sie der Göttin ihre Achtung erweisen, um eine gute und sichere Passage zu haben. Sie falten die Hände und wünschen sich was. Dann haben sie eine sichere Reise."
Wenige Kilometer hinter dem Feenberg, in Wushan, steigen wir von der "Victoria Anna" in einen kleineren Flussdampfer um. Hier mündet der Daning in den Jangtsekiang. Seit dem Bau des Staudamms ist er zu einem gut 100 Meter breiten Fluss angeschwollen. Früher war er in regenarmen Zeiten nur ein schmales Rinnsal.
Vorher -nachher:
"Manchmal mussten die Touristen das Boot verlassen und die Stromschnellen zu Fuß umwandern", sagt unser Daning-Guide Chen Jun, die sich Alice nennt. "Und die Bootsführer mussten in den Fluss springen und das Boot an einem Seil ziehen. Das war harte Arbeit. Aber jetzt ist der Fluss sehr tief, ungefähr 75 Meter tief."
Diese Seitenschlucht des Jangtse ist noch enger, die Felsen rechts und links des Flusses wirken noch höher, noch steiler. Alice deutet auf kleine Höhlen hoch über unseren Köpfen. Wer genau hinschaut, entdeckt darin versteinerte Särge. Das antike Volk der Ba hat dort oben seine Toten bestattet, damit sie näher am Himmel sind. Hin und wieder sehen wir auch Affen, die auf den Felsen herumturnen. Viele der Ausflügler finden die Szenerie in der Daning-Schlucht noch eindrucksvoller als die in den Jangtse-Schluchten:
"Das haut einen um, so was sieht man im Leben nur einmal. Man kennt es aus dem Fernsehen, und dann ist man wirklich hier. Einfach unglaublich! Toll!"
"Es ist spekatuklär! Wenn man an China denkt, denkt man nicht an so was. Das war wirklich eine angenehme Überraschung. Es hat mich an Alaska und Neuseeland erinnert."
Den Vorstellungen von China wesentlich mehr entspricht unser Ausflugsziel tags darauf: Baidi Cheng, die "Stadt des weißen Kaisers", am Ausgang der Qutang-Schlucht. In der Tempelanlage wurde einst der legendäre Kaiser Gong Sunshu verehrt, ein weiser und gütiger Herrscher, 2000 Jahre vor unserer Zeit. Bevor es den Staudamm gab, lag sie auf einer Landspitze, durch den gestiegenen Pegel des Jangtse liegt sie heute auf einer Insel.
Begleitet von rhythmischem Trommeln schreiten wir über den hölzernen Steg zu der Insel hinüber. Zur eigentlichen "Stadt des weißen Kaisers" führen dann rund 300 Treppenstufen. In der schwülen Hitze der Drei-Schluchten-Region eine schweißtreibende Sache.
"Bisschen schon, ja."
"Sehr. Ich bin das nicht gewohnt. Ich hab’ zu Hause nur 13 Stufen und nicht 300. Und vor allem – die Stufen haben ein anderes Maß, das strengt sehr an."
Wer diese Mühen scheut, kann sich gegen einen kleinen Obolus auch mit der Sänfte hinauftragen lassen. Die Träger freuen sich über den Verdienst, aber manch westlicher Besucher bekommt hinterher offenbar ein schlechtes Gewissen.
"I feel a little guilty and I don’t know if this is totally appropriate."
Egal ob zu Fuß oder mit der Sänfte, der Blick von oben auf die Qutang-Schlucht jedenfalls ist phänomenal. Und er hat sogar den "Großen Vorsitzenden" Mao Zedong bei einem Besuch 1956 zum Dichten animiert. Unsere örtliche Führerin Li Zeyi, die sich Coco nennt, zitiert aus Maos Versen.
Der chinesische Original-Text bedeutet in verkürzter Übersetzung etwa:
"Am frühen Morgen verließ ich die Stadt des weißen Kaisers. Mit der bunten Wolke am Himmel gehe ich nun nach Chang Ling, Hunderte von Meilen entfernt. Aber eines Tages kehre ich zurück und wenn ich über den Jangtse fahre, werde ich mich an diesen herrlichen Ausblick erinnern."
Die Tempelanlage von Baidi Cheng selbst aber ist nicht annähernd so beeindruckend wie die der Geisterstadt Fengdu, der wir am letzten Tag unserer Kreuzfahrt einen Besuch abstatten. Auch hier hat sich durch den Staudamm viel verändert. Das weltliche Fengdu ist eine chinesische Ausgabe von Atlantis, nämlich komplett versunken in den Fluten des aufgestauten Jangtse. Doch am anderen Flussufer hat man eine Ersatzstadt aus dem Boden gestampft.
Ein Sessellift bringt Besucher in die Geisterstadt hoch über dem versunkenen Fengdu. Der Überlieferung nach residiert dort der Höllenkönig. Wer der ewigen Verdammnis entgehen will, muss drei Prüfungen bestehen, erklärt unsere deutschsprachige Führerin Peng Yi alias Julia. Eine Prüfung besteht darin, auf einem Stein zu balancieren.
"Wenn man mit dem einen Fuß – Männer mit dem linken und Frauen mit dem rechten Fuß auf ihm drei Sekunden lang stehen kann, darf er den König aufsuchen. Das bedeutet, er ist ein guter Mensch."
Der Prüfstein liegt unmittelbar vor dem Palast des Höllenkönigs. Die daoistische Kultstätte stammt aus der Ming-Dynastie vor rund 500 Jahren. In der großen Halle richten sich alle Augen auf eine überlebensgroße Statue. Sie ist ganz mit Gold überzogen und in ein wallendes rotes Tuch gehüllt.
"Diese Figur, das ist der König von dieser Geisterstadt, er verwaltet diese ganze Geisterstadt. Dieser König, auf Chinesisch, heißt Yin Wang. Yin bedeutet die Unterwelt, Wang bedeutet der König. Yin Wang zusammen in China bedeutet der König von die Unterwelt. Und an seiner Seite sind die Untergebenen. Es sind die höchsten Beamten von dieser Geisterstadt."
Anscheinend ist unser Sündenregister nicht lang genug, denn der Höllenkönig Yin Wang lässt uns alle wieder ziehen. Zurück an Bord der "Victoria Anna", haben wir Gelegenheit zu einem Besuch auf der Kommandobrücke. Der Käpt’n lässt sich zwar entschuldigen – man munkelt, er schäme sich, weil er nicht gut Englisch spricht, aber Fluss-Guide Li Xutong, genannt Daniel, gibt bereitwillig Auskunft:
"Wir haben zwei Dieselmotoren, je 1600 PS stark und beide in China produziert. Die Höchstgeschwindigkeit dieses Schiffes beträgt 28 km/h oder 16 Knoten ungefähr. Aber im Moment fahren wir langsamer. Wir müssen sehr vorsichtig sein, hier sind sehr viele lokale Boote unterwegs, in beiden Richtungen."
Daniel ist ein alter Hase auf dem Jangtse. Er kann sich noch gut erinnern, wie schwer es die Schifffahrt vor dem Dammbau hatte. Weniger PS-starke Boote kamen häufig nicht gegen die Strömung an, sie mussten sich durch die Gefahrenstellen schleppen lassen. Manchmal waren sie sogar gezwungen vor Anker zu gehen und abzuwarten, bis die Strömung nachließ.
"Aber dafür haben wir jetzt andere Probleme, schränkt er ein. Es verdunstet mehr Wasser, dadurch haben wir mehr Nebel und mehr Regen. Heute ist die größte Gefahr der Nebel oder manchmal auch der starke Wind."
Und als wollte der Wettergott Daniels Worte bestätigen, wird der Himmel zusehends trüber, auch ein paar Regentropfen fallen. Aber es sind nur noch wenige Stunden bis zum Ziel unserer Kreuzfahrt in Chongqing. Zeit für eine kleine Bilanz unter den Passagieren – und alle nehmen positive Erinnerungen mit:
"Dass man von A nach B gebracht wird, ohne viel tun zu müssen, und noch viele schöne Sachen unterwegs sieht. Wenn man auf dem Balkon steht, auf seinem eigenen Balkon, oder auf der Reling, dann rüberguckt und die Aussicht bewundern kann, das ist klasse."
"Am meisten überrascht hat mich der hohe Standard des Personals, die alle durchweg freundlich, qualifiziert waren, hilfsbereit und immer um einen herum waren."
"Unterkunft ist ausgezeichnet. Die Crew ist sehr zuvorkommend, gastfreundlich. Die Chinesen selbst haben mich begeistert, es heißt, immer ein Lächeln im Gesicht."
Das Klischee vom "Land des Lächelns", es stimmt eben doch. Und dieses Lächelnes erscheint uns nicht unergründlich, sondern aufrichtig. Die gesamte Crew der "Victoria Anna" ist uns ans Herz gewachsen. Bei der abendlichen Show zieht sie noch mal alle Register.
Künstlerisches Talent ist Einstellungsvoraussetzung für die begehrten Jobs an Bord. In traditionellen chinesischen Kostümen zeigen Köche, Kellnerinnen oder Zimmermädchen, dass sie ebenso gut singen, tanzen oder musizieren können. Und auch an dem amerikanischen Kreuzfahrt-Direktor Dick Carpentier ist offenbar ein Entertainer verloren gegangen.
Kein Wunder, dass uns der Abschied am nächsten Morgen umso schwerer fällt. Nach dem Frühstück steigen wir von Bord. Am Pier von Chongqing marschieren wir wiederum durch ein Spalier von Trommlern.
An der Reling stehen viele vertraute Gesichter und winken. Für die Crew der "Victoria Anna" ist das Ende dieser Kreuzfahrt zugleich der Anfang der nächsten. Schon am selben Abend wird sie die Rückreise nach Yichang antreten.
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