Reisebericht Wandertour Yukon
von Hike auf 25.06.2019
Berge, Bären, Windeln wechseln
Der Kluane Nationalpark liegt im Südwesten des Yukon Territoriums. Er ist ein Teil des größten zusammenhängenden Eisfeldes außerhalb der Arktis und Antarktis. In ihm thront der höchste Punkt Kanadas, der Mount Logan, mit 5950 m. Den Namen „Kluane“ (sprich „kluh-ha-nih“) übertrugen die ersten weißen Siedler sowohl aus der Sprache der Südlichen Tutchone Indianer – hier bedeutet „Łù’àn Mæn“ „Großer Fischsee“ – als auch aus der Sprache der Tlingit, von denen das Gebiet als „ùxh-àsni“ „Weißfisch-Land“ bezeichnet wurde.
Der Nationalpark
Im Nationalpark dominieren schroffe Bergketten, Eis- und Schneefelder. Die Ursache für jenes gewaltige nichtpolare Eisfeld ist das Zusammenwirken von Klima und Relief in diesem Teil der Welt. Immens große Mengen von feuchter Pazifikluft werden gegen ein gigantisches Gebirgsmassiv an der Küste getrieben. Es reicht vom Wrangell-Saint Elias Nationalpark (Alaska), über den Kluane Nationalpark (Yukon), den Glacier Bay Nationalpark (Alaska) bis zum Tatshenshini-Alsek Provinzpark (British Columbia). Übrigens bilden diese vier Parks mit 97 520 km² - das ist fast so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen - das größte zusammenhängende internationale UNESCO Schutzgebiet der Welt. Die niedrig über dem Pazifik treibenden Luftmassen sind vollbeladen mit Millionen Wassertröpfchen und werden durch die Tiefdruckgebiete der Westwindzone beständig über die 2000 bis 3000 Meter hohen Bergkämme gedrückt. Sie werden auf kurzer Strecke zu einem rasanten Aufstieg gezwungen, kühlen dabei sehr schnell ab und entladen sich durch enorme Regen- oder Schneefälle über dem Land. Natürlich müssen Trekkingtouristen auch im Sommer mit Schneefall rechnen. Im Umfeld der hohen Gipfellagen verwandelt sich die angesammelte Schneemenge schnell zu Gletschereis. Dieses fließt in den Hochgebirgstälern ab. Die Talgletscher verbinden die Randlagen der Nationalparks mit dem vereisten Zentrum. Zu Fuß wollen wir eine Gletscherzunge vom Alaska Highway aus erreichen: den Kaskawulsh Gletscher, dessen Schmelzwasser durch das Slim River Tal in den Kluane See fließt.
Die Einmündung des Congdon Creek
Wir beziehen zunächst Quartier auf dem Provinzzeltplatz an der Einmündung des Congdon Creek in den Kluane See. Schon bei der ersten Begehung finden wir dieses Fleckchen Erde wunderschön. Von Bäumen geschützt vor dem kalten Seewind öffnet sich eine weitflächige Wiese. Im Zentrum befindet sich ein kleiner einfacher Spielplatz. Am Rande der Lichtung sind die Zeltplätze sowohl zum Seeufer als auch zum Wald hin angelegt. Berge umrahmen den See in jeder Richtung, so dass man sich um den Fotohintergrund keine Sorgen zu machen braucht. Wie alle von der Provinz unterhaltenen Campingplätze, so hat man auch am Congdon Creek für 12 Can $ pro Stellplatz und Nacht mehrere Trockentoiletten, mindestens eine Wasserpumpe und Feuerholz inklusive. Letzteres ist einmalig in ganz Nordamerika und wird zum Teil ohne Rücksicht auf die Natur oder die menschliche Gemeinschaft, die dafür aufkommen muss ausgenutzt. Es gibt Camper, die ihr Feuer Tag und Nacht brennen haben, egal ob sie es gerade brauchen oder nicht. Andere veranstalten besonders an verlängerten Wochenenden wahre Freudenfeuer. Im Yukon muss es auch Einwohner geben, die mit dem auf staatlichen Zeltplätzen bereitgestellten Feuerholz ihre heimischen Depots auffüllen. Deshalb ist es in der ganzen Provinz untersagt, auf einem staatlichen Zeltplatz Feuerholz ins Fahrzeug zu laden oder dieses zum nächsten Platz mitzunehmen. Wer erwischt wird, zahlt sofort 1000 Can $ Strafe und geht für zwei Jahre ins Gefängnis. Ungefähr 50% ihrer Arbeitszeit haben die Beschäftigten der Yukon Government Campgrounds (YGC) mit dem Holzranschaffen zu tun. Da bleibt in der kurzen Tourismussaison von Juni bis September nicht mehr viel Zeit für Instandhaltung, Pflege und Kontrollen. Ist die Saison vorbei, werden die Arbeiter entlassen. Nur eine Handvoll Glücklicher, meist Verwaltungs- und Leitungskräfte, sind bei den YGC ganzjährig angestellt. Ein Ehepaar, welches die Zeltplätze um den Nationalpark säubert, erzählt, dass dies nur ein Zuverdienst zu ihrer Rente sei. Ja, dies sei einer der schönsten Campingplätze im Yukon, aber auch sehr gefährlich.
Die Lieblingsmahlzeit der Grizzlies
Dieses sonnig gelegene, halb offene Gelände bringt gerade jetzt sehr viele reife Beeren hervor, eine Lieblingsmahlzeit der Grizzlies. Es sind in den vergangenen Jahren von Campern auf diesem Platz immer wieder Vorfälle mit Braunbären gemeldet worden. Deshalb habe man bereits eine Hälfte des Zeltplatzes ganz geschlossen. Ich frage ihn, ob in dieser Saison schon Bären hier gesichtet wurden. Nein, aber das will nicht viel heißen. Schließlich nimmt jetzt ein Grizzly täglich 40 kg Nahrung zu sich. Dafür kann er kilometerlange Tagesetappen zurücklegen. Wir sollten auf der Hut sein. Am Eingang des Campingplatzes wurde uns auf einer Hinweistafel angeraten, im Fahrzeug zu schlafen. Wir ziehen diese Möglichkeit in Betracht. Der Bus bietet mit dem ausgefahrenen Oberteil genügend Platz für drei Schlafplätze und unsere Sachen. Allerdings ist diese Variante jeden Abend und jeden Morgen mit viel Räumerei verbunden. Waren wir nicht auf früheren Touren in Kanada ganz auf uns allein gestellt und hatten gar keine Alternative zum Zelt im „bear country“? Gewiss. Doch jetzt tragen wir auch für unseren 16 Monate jungen Sohn Lennart Verantwortung. Es deutet zwar nichts auf die Anwesenheit eines Bären hin, und diesmal haben wir zu zwei Seiten auch Campernachbarn. Doch wir halten trotzdem alle Vorsichtsmaßnahmen streng ein.
Keine Lebensmittelreste erlaubt
Gegessen wird nur an einer Stelle, dem Picknicktisch. Keiner darf groß herumkrümmeln, Lennart eingeschlossen. Wer Kinder hat, weiß was das heißt. Die Essens Reste werden sofort weggeräumt. Alles Geschirr waschen wir schnell ab und das schmutzige Wasser entsorgen wir in der Toilette. Eines lassen wir uns allerdings nicht nehmen: unsere Freude am Zelten. Das Zelt habe ich in unmittelbarer Nähe zum Bus aufgebaut. Ein kurzer Fluchtweg sollte also für Beruhigung in der Einschlaf- phase sorgen. Im Zelt befinden sich weder Geschirr noch Sachen voller Essens Reste. Solchermaßen gerüstet für die Nacht, spazieren wir noch einmal am Ufer des Kluane Sees entlang. Der Kiesstrand ist für Lennart natürlich verlockend. Erst lässt er vorsichtig einen einzelnen Kieselstein in die auslaufenden Wellen gleiten, dann fliegt schon bald Stein um Stein ins Wasser. Lennart tobt und hat Spaß, zieht an meiner Hand und will selbst ins – wie er wohl glaubt – kühle Nass. Ich entledige mich schnell aller Sachen, ziehe Lennart aus und nehme ihn vorsichtig mit in den eiskalten See. Nur langsam tauche ich seine Füße, dann die Beine ein, aber da ist auch schon Schluss. Das Lachen verschwindet, Lennart beginnt zu strampeln und möchte an das rettende Ufer zurück. Von nun an zeigt unser Kind ganz schönen Respekt vor dem verführerisch blauen Nass.
Ein ausgewachsener Grizzlybär
Zum Ausgleich für den erlittenen „Schock“ zaubert Manuela zum Abendbrot: Schweinefleisch mit gebratenen Bohnen und Kartoffelbrei. Da lacht das Herz! Insbesondere bei Lennart, der schon seit Tagen einen ungezügelten Appetit zeigt und herzhafte Speisen über alles andere mag. Mit dem Sattsein kommt sofort die Müdigkeit. Wegen irgendeiner Kleinigkeit beginnt Lennart zu weinen. Er hört erst wieder auf, als wir ihn in das Zelt „einfliegen“. Ausziehen, Potty Time“, Zähneputzen und das Eincremen der Haut müssen jetzt schnell erledigt werden. Dafür ist Manuela der Experte. Nebenbei, so höre ich, erzählt sie Lennart im Zelt noch eine Geschichte. Eine Viertelstunde später, ich bin gerade mit dem Abwasch fertig, steht Manuela schon wieder draußen und im Zelt ist es mucksmäuschenstill. Das soll unsereiner mal versuchen! Bei mir dauert diese Prozedur gewöhnlich doppelt so lang. Drinnen, im Zelt, ist es weitaus geräumiger, trockener und frischer als im Bus. Kaum dass auch Manuela und ich uns hingelegt haben, hören wir draußen aufgeregte Menschen reden. Es sind nur wenige Fahrzeuge auf dem Zeltplatz. Schritte kommen auf unser Zelt zu und jemand ruft mich nach draußen. „Entschuldigen Sie, nur 15 Meter von hier haben wir eben einen ausgewachsenen Grizzlybären gesichtet. Vielleicht tun Sie gut daran, im Auto zu schlafen.“ Der Mann in der Uniform eines Nationalpark-Rangers bleibt sachlich und überlässt uns die letzte Entscheidung. Dann läuft er ganz beschäftigt schon wieder davon. Vor dem Zelt stehend, schaue ich argwöhnisch in das angrenzende Unterholz. War denn dieser große dunkle Buckel gleich neben dem Pfad zum See schon immer da gewesen? Der bewegt sich doch! Oder nicht? Zu hören ist jedenfalls nichts. Manuela bleibt bei Lennart im Zelt, ich räume schnell im Bus um und öffne die Dachkabine des Campers. Manuela trägt den ahnungslos schlafenden Lennart, ich die Schlafsäcke in den Bus.
Wieder zurück ins Zelt
Es ist 22:00 Uhr und noch taghell. Natürlich versuchen wir durch die Fenster den Bären irgendwo in der Umgebung auszumachen. Vergeblich, vielleicht ist er schon über alle Berge. Oder hat uns da jemand einen Bären aufgebunden? Egal! Wenigstens können wir nun ruhig schlafen. Die nächsten zwei Nächte ziehen wir wieder ins Zelt zurück. Die Tage gehen wir ruhig an. Lennart hat viel Zeit zum Erkunden von Spielplatz und Seeufer. Natürlich ist zumindest einer von uns immer mit dabei. Während der kurzen Ausflüge, die wir unternehmen, bestimmt Lennart das Geschehen. Gefällt es ihm im Rucksack nicht mehr, wird ausgiebig innegehalten und wir erkunden zusammen den Pausenplatz. Ob Seeufer oder Hochgebirgspfad – Entdeckungen gibt es in Hülle und Fülle. Auf einer dreieinhalbstündigen Wanderung entlang des Sheep Creek Trails entwendet mir unser Sohn meinen Trekkingstock. Ich schiebe ihm die Teleskopglieder ganz zusammen und fertig ist sein Wanderstock, den er nun nicht mehr hergibt. Die uns entgegenkommenden Tageswanderer lachen herzlich beim Anblick dieses Kraxelzwerges an Manuelas Hand. Noch wirken seine Schritte sehr unsicher auf diesem unebenen Gelände und nach einer Viertelstunde ist Lennart erschöpft. Im Rucksack schläft er schnell ein, doch das hat er schon vorher oft getan.Der Wanderstock hat wohl Lennart mächtig selbstbewusst gemacht. Am nächsten Morgen zeigt er gebieterisch auf den Kinderwagen. Okay, wenn es sein muss. Wir begeben uns auf eine Entdeckungstour in den stillgelegten Teil des Campingplatzes. Wege, Pfade und Stellplätze existieren zwar noch, sind aber in den letzten zwei Jahren schon verwildert. Zusammen mit dem jetzt noch genutzten Gelände muss dies einst ein riesengroßer Campingplatz mit ca. 80 Stellplätzen gewesen sein. Die meisten Plätze sind zugewachsen, man sieht kaum noch klare Grenzen zum angrenzenden Wald. Kleine Bäume und Sträucher kämpfen sich durch den Fahrweg in die Höhe. Dazwischen thront ein riesiger Haufen frischer Bärenkot. Oh Schreck! So wie es aussieht, ist das Tier noch ganz in der Nähe. Wenn der Bär sich aber an den hier im Überfluss vorhandenen Beeren labt, dann müssen wir jetzt ganz laut sein. Es ist bekannt, dass sich Bären im Sommer sehr häufig auf Zeltplätzen und Straßen aufhalten. Hier finden sie große offengelegene Bereiche, in denen niedrige Pflanzen mehr Licht als anderswo bekommen. Deren Beeren und Wurzeln sowie Gräser können bis zu 90% der Ernährung eines Bären ausmachen. Die meisten „Unfälle“ mit Bären geschehen dadurch, dass das Tier plötzlich von der Anwesenheit eines Menschen überrascht wird, sich bedroht fühlt und angreift. Mit Johlen und Schreien geht es zurück zu unserem Zeltplatz.
Der Slim River Trail - eine Wandertour
Kurioserweise ist es gerade dieser vorzeitige Abbruch unserer Erkundungstour, der noch zu einer atemberaubenden Begegnung mit dem Bären führen wird.Wir haben uns entschlossen, die bis zum Mittag verbleibende Zeit zu nutzen und zur 18 km entfernten Touristeninformation am Sheep Mountain zu fahren. Ausgiebig informieren wir uns über den von uns beabsichtigten Slim River Trail. Wir wollen die Dreitagestour in das Innere des Nationalparks wagen, lassen uns registrieren und leihen einen bärensicheren Kanister für die Lebensmittel aus. Dann geht es zurück. Bücher, Puzzleteile, Kekse und anderer Krimskrams fliegen durch den Bus als Manuela unvermittelt scharf bremst. „Ein Bär! Ein Bär! Ein richtiger Grizzlybär! ... Schnell, gib mir den Foto vor!“ Lennart und ich recken uns die Hälse aus und bemerken ihn erst, als Manuela schon das erste Bild schießt. Das Tier erscheint riesengroß, läuft behände fünf Meter entfernt im Straßengraben vorbei und quert dann die Straße direkt vor unserer Windschutzscheibe. „Da! Da! Da!“ Lennart zeigt aufgeregt mit dem Finger nach vorn. Wir fotografieren eine ganze Serie von Bildern. Auf der anderen Straßenseite macht sich der braune Koloss sofort über kleine Sträucher her. Das Teleobjektiv fängt gewaltige, gebogene Klauen ein, die sich hell von der nach Wurzeln wühlenden Tatze abheben. Ein Schlag mit dieser Pranke kann tödlich sein. Es fahren drei Fahrzeuge vorbei, eines hält ebenfalls zur Beobachtung an. Unbeeindruckt vom Verkehr frisst sich unser Bär den gegenüberliegenden Hang hinauf und verschwindet nach ungefähr einer Viertelstunde gemächlich im Gebüsch. Was für ein Erlebnis aus dem sicheren Auto heraus! Doch wenn es morgen früh auf Rucksacktour geht, möchten wir lieber von solchen Anblicken verschont bleiben.
Die feine Bärennase
Die mittägliche Begegnung bleibt unser Gesprächsstoff bis in die Nacht hinein. Und natürlich müssen wir uns gegenseitig Mut zusprechen für die nächsten drei Tage in der Wildnis. Sorgfältig gehen wir noch einmal alles durch: Der Anmarsch zum rustikalen Wanderzeltplatz unweit des Gletschers beträgt 22,5 km. Das einzige Mittel gegen ungewollte Bärensichtungen wird wieder unser Geräuschpegel sein, der deutlich lauter als die Umgebung sein muss. Bei starkem Wind oder in Flussnähe werden wir uns besonders Gehör verschaffen müssen. Auch wenn Lennart im Rucksack schläft, werden wir uns bemerkbar machen, das ist klar. Besonders im unübersichtlichen Gelände wollen wir vor jeder Biegung laut reden, singen oder schreien. Wir hatten angenommen, dass der ausgeliehene Behälter den Geruch der Lebensmittel von den feinen Bärennasen fernhalten kann. Aber die Mitarbeiterin der Touristeninformation erklärte uns, dass dieses unzerbrechliche „Fass“ uns vielmehr vor dem Hungertod schützen soll, falls Meister Petz uns ausrauben will. Für eine Dreitagestour eine sinnlose und noch dazu schwer zu tragende Sicherheitsmaßnahme, wie ich meine. Da machen wir uns doch erst einmal lieber mit dem Fall der Fälle vertraut und studieren ein Faltblatt. Trotz aller Vorkehrungen könnte ja trotzdem plötzlich das gefürchtete Raubtier des Nordens vor uns stehen. Was dann? Wir gehen noch einmal alle Tipps durch. Kind auf die Schultern hoch – eng zusammenstellen und groß machen – langsamer Rückzug, wenn der Bär nicht auf uns zukommt – Stehen bleiben und ruhig zureden, wenn der Bär näher kommt. Ein Bär greift nur äußerst selten Menschen an. Wir wollen nicht hoffen, dass wir mit dieser Situation konfrontiert werden. Nahrung gibt es jetzt für Bären in Hülle und fülle. Erfolgt ein Angriff, wird der Bär uns wahrscheinlich als Bedrohung wahrgenommen haben. Die Nationalparkverwaltung gibt für diesen Fall sehr widersprüchliche Verhaltensmaßregeln. Eine Möglichkeit ist die bedingungslose Kapitulation indem man sich hinwirft und tot stellt. Hier sollte der angegriffene Mensch hoffen, dass das Tier in ihm keine Gefahr mehr sieht und abzieht.
Trekkingtouren
Aber in dem Faltblatt wird auch eingeräumt, dass schon mehrmals Menschen gerade durch ihr heftiges Sich-zur-Wehr-Setzen den attackierenden Bären in die Flucht geschlagen haben. Letztendlich kann man immer nur hoffen, nie in eine solche Gefahr zu geraten oder, dass die unerwünschte Begegnung ein glückliches Ende hat. So, jetzt machen wir aber Schluss mit der Diskussion! Wir wollen doch in den nächsten drei Tagen sowieso keinem Bären über den Weg laufen!Eine Buckelpiste führt bis zum Parkplatz Slim River, dem Ausgangspunkt für kleinere Trekkingtouren in das Parkinnere. Es ist beruhigend zu wissen, dass gestern und vorgestern zwei Einzelwanderer und zwei kleine Gruppen aufgebrochen sind, die sich auch irgendwo auf den nächsten 32 Kilometern zwischen Parkplatz und Gletscher befinden müssen. Vollbepackt mit der gesamten Campingausrüstung, Verpflegung und Lennart auf dem Rücken stiefeln wir von unserem sicheren Gefährt einen breiten Wanderweg davon. Eine Gedenktafel erinnert an eine Wanderin, die durch einen Bären ihr Leben verlor. Als es kurz darauf im Wald neben uns laut kracht, stimmen wir ganz laut ein neues Lied an und beschleunigen unser Tempo. Noch ist genug Puste da. Es zweigen ausgeschilderte Tagestouren ab und schon bald hat sich der Weg im halboffenen Gelände des breiten Flusstales verloren. Zwar sollte laut der uns ausgehändigten Wegbeschreibung ein Wanderweg oder gar eine alte Bergbaustraße existieren, aber jegliche Pfade verlaufen sich sehr oft im Geröllschotter der Nebenflüsse oder im weitflächigen Buschwerk des Slim River Tales. Richtungsweisend bleibt immer das Flusstal selbst. Beim Durchwaten des Bullion Creek haben wir unsere Wanderschuhe um den Hals hängen und Lennart jauchzt. Das Planschen unserer Füße im Wasser macht ihm einen Mordsspaß. Weitere Wasserläufe, die zum Slim River fließen haben breite sumpfige Niederungen geschaffen. Nun werden die Wanderstiefel doch noch nass! Wir halten uns an den Seiten eines ausgetretenen Pfades, der selbst zum Wasserlauf geworden ist. Für die Mittagspause haben wir einen windgeschützten Platz hinter einer Baumgruppe gefunden. Ansonsten ist das Gelände gut einsehbar. Weit entfernt schreit irgendetwas. Die Schreie wiederholen sich, stetig näherkommend. Bald darauf kommt ein einzelner Rucksackträger fast im Laufschritt an. Als er innehält um kurz mit uns zu schwatzen, sind wir beruhigt. Ich dachte schon, der riesige Grizzly, den wir gestern beobachtet hatten, ist ihm auf den Fersen. Pierre ist aus Quebec. Nachdem er ein Überlebenstraining im Yukon für gutbetuchte Manager geleitet hatte, wollte er sich mit diesem Trail selbst noch etwas Gutes tun bevor er nach Hause zurückfliegen muss. Nun, er schaut auf seine Uhr, hat er nur noch sieben Stunden Zeit bis zu seinem Rückflug. Ja das wird wirklich knapp, denn vom Parkplatz muss er ja auch noch reichlich 200 km bis Whitehorse fahren! Wir wünschen ihm zügiges Vorankommen und weiterhin eine laute Stimme, damit er bei diesem schnellen Tempo nicht noch einen Bären aufgabelt. Auch für uns geht es weiter. 23 Kilometer bis zum rustikalen Wanderzeltplatz erfordern von uns vollbepackten Enthusiasten – untrainiert wie wir sind – das Äußerste. Selbst Lennart hat zu kämpfen, der starke Gegenwind muss im Gesicht weh tun. Bewegung für Lennart ist auf die kurzen Pausen begrenzt. Heute muss er sich unterordnen und er hält tapfer durch. Fünf Kilometer vor dem Tagesziel ist allerletzter Einsatz gefragt. Es geht steil bergauf und über abschüssige Hänge, bei denen wir auf den richtigen Tritt achten müssen. Ein Meter neben dem Pfad – und per Rutschpartie würde es in den dreißig Meter unter uns dahinströmenden Fluss gehen! Diesen Hang haben wir geschafft, aber dann ist die Batterie herunter. Mitten auf einem himmelhoch führenden Kraxelpfad im Wald – die ungünstigste Stelle kurz vor dem Ziel – müssen wir doch noch eine Verschnaufpause einlegen. Der verbliebene Tee wird geleert, jeder bekommt einen Apfel und dann laufen wir die letzten Meter zum Camp. Nach acht Stunden Marsch begrüßt uns Hundegebell und der Geruch eines Lagerfeuers. Ach wie tief sich durchatmen lässt, wenn der Rucksack nicht mehr drückt! Wie viel Freude kann ein unbeschwerter Gang zum Wasserholen machen! Aus dem Tragerucksack befreit, flitzt Lennart wie eine Rakete los und setzt den beiden Hunden hinterher, die uns begrüßt haben. Sie laufen einem Mann mit Hut, Nickelbrille und Stoppelbart entgegen. Wir lernen Jason und seinen Freund kennen. Die Beiden beginnen, ihr Abendessen vorzubereiten. Auch wir müssen uns sputen. Lennart ist vor Müdigkeit und Hunger weinerlich. Er bleibt mit am Lagerplatz und beobachtet jeden meiner Handgriffe. Beim Einrühren der Tütensuppe nimmt seine Ungeduld noch einmal lautstark zu. Manuela baut flugs das Zelt auf und bereitet alles für die Nacht vor. Während des Kochens bekomme ich von Jason einige Hinweise, worauf wir am morgigen Tag achten müssen, wenn wir Observation Mountain erklimmen wollen. Jason denkt, dass ein Ausflug an die eigentliche Gletscherzunge im Tal lohnenswerter und einfacher sei. Eingespielt wie wir sind, sitzen Manuela, Lennart und ich bereits nach zehn Minuten am Feuer und löffeln das Süppchen in unsere hungrigen Bäuche hinein. Manuela kommentiert: „Lennart haut ´rein, als ob er die ganzen 23 km selbst gelaufen wäre.“ Während sie ihn zu Bett bringt, schläft er schon beim Anziehen des Schlafsacks ein. Uns geht es nicht viel besser. Die Erschöpfung siegt über das schlechte Gewissen, den Anderen keine weitere Gesellschaft mehr zu leisten.Der neue Tag ist wolkenverhangen. Gestern bildeten die vergletscherten Berge noch ein wunderbares Panorama.
Canada Creek
Heute sind zunächst nur die unteren Hänge zu sehen. Wir haben nur diesen Tag für eine Expedition auf den Observation Mountain, dem besten Aussichtspunkt auf den Gletscher. Oder, wir wandern doch zum Fuße des Gletschers selbst? Die Entscheidung fällt schwer. Wir sagen uns, dass auch die Hoffnung auf gute Sicht zuletzt stirbt und machen uns auf den Weg zum Berg. Wieder einmal beginnt alles mit einer Flussquerung. Das breite und verästelte Schmelzwasserbett des Canada Creek hält Lennart bei bester Laune und unseren Kreislauf ganz schön in Schwung. Die darauffolgende Route gehen wir anhand der im Besucherzentrum ausgehändigten Wegbeschreibung und mit Hilfe einer topographischen Karte. Von Weg kann keine Rede mehr sein. Es ist zunächst eine Kraxelei über Flussschotter. War das schon nicht angenehm, so wirkt der jähe Aufstieg auf einen Seitenkamm des Observation Mountain regelrecht gefährlich. Mit Lennart im Rucksack, arbeite ich mich die ersten Meter des Wildpfades mit Händen und Füßen hinauf. Im Lager hatte uns Jason gesagt, dass dies die steilste und gefährlichste Stelle sei. Na gut, das stimmt. Aber der Pfad führt weiterhin ununterbrochen himmelwärts. Es sind zwar vorerst keine Hände mehr nötig, aber ein paar Treppenstufen wie auf den Lilienstein in der heimischen Sächsischen Schweiz wären auch nicht schlecht. Nur, dann würden wir wahrscheinlich nicht auf den nächsten anderthalb Kilometern 900 Höhenmeter gewinnen. Es geht nur schleichend voran. Der gestrige Anmarsch steckt noch in den Beinen. Die Wolkendecke scheint mit unserem Aufstieg Schritt halten zu wollen. Die grauen Fetzen treiben ständig hundert Meter über uns dahin. Lennart beginnt jämmerlich zu weinen. Er braucht bald wieder eine Pause und würde die Umgebung wohl selbst gern erkunden. Immer wieder schaut Manuela auf ihre Uhr. „Wenn wir nicht in zwanzig Minuten das Plateau erreicht haben, will ich zurück.“ Ich verstehe. Den Gipfel müssen wir heute abschreiben. Aber vom Plateau soll man auch auf den Gletscher blicken können. Der Berghang wird schon flacher. Ein klarer Pfad ist nicht mehr auszumachen. Spärlich nur noch wächst das Gras. Felsbrocken beginnen die Oberfläche zu dominieren. Mit jedem Schritt erblicken wir etwas mehr von dem wuchtigen Gebirgskamm vor uns. Nach diesem qualvollen Aufstieg werden wir nun mit dem Blick auf ein grauweißes, geschlungenes Band des enttäuschend weit entfernten Kaskawulsh Gletschers abgespeist.
Observation Mountain
Postkartenaufnahmen, die wir gesehen haben, zeigten wahnsinnig lange, im unteren Drittel zusammenströmende Gletscherzungen. Nichts davon hier oben. Diese Fotos können nicht einmal von dem etwas über uns befindlichen Gipfel des Observation Mountain stammen. Der ist mal wieder in Wolken gehüllt. Nein, die bunten Bilder, die uns hier hoch verführt haben, müssen während eines „Flightseeing“ geschossen worden sein. Bei schönem Wetter gibt es nämlich häufige Rundflüge, die dem Touristen die Bergwelt aus der Vogelperspektive zeigen. Dabei sagen sich die Veranstalter, wer einmal so viel Geld für eine Reise in den Yukon ausgegeben hat, dem tun auch ein paar Hunderter für derartige Besichtigungen nicht mehr weh.Ich bereue nun, dass wir uns nicht für das Heranlaufen an die eigentliche Gletscherzunge entschieden haben. Vielleicht wäre dann Zeit für längere Pausen und mehr Erholung gewesen.
So wie Lennart gerade losstiefelt, hat er Bewegung dringend nötig. Wir nehmen uns für künftige Touren vor, darauf zu achten, dass er größere Freiräume hat. Der kalte Wind lädt nicht zu einer stundenlangen Pause ein. Um Lennart zu überreden, wieder im Rucksack Platz zu nehmen, muss ich eine kleine List anwenden. Ich tobe zunächst mit ihm herum, dann schnappen meine Hände seinen quirligen Körper und schwupsdiwups sitzt er drin. Natürlich schlägt sein ausgelassene Lachen sofort in herzzerreißendes Weinen um. Aber es hilft nichts. Der Abstieg hat ebenso vorsichtig und langsam wie der Aufstieg zu geschehen. Die Zeit drängt. Auf dem Rückweg müssen wir Lennart im Windschatten eines Felsbrockens umziehen. Windeln und Sachen sind durchnässt. Zum Glück haben wir Wechselsachen für ihn dabei. Keine Frage, dass wir alle vollen Windeln bei unserem morgigen Rückweg wieder mit aus dem Nationalpark heraustragen. Im Camp gibt es keine Abfalltonne. Jeder trägt seinen Müll selbst wieder heraus. Es ist gut, dass wir uns beeilt haben. So kann Lennart nach dem Abendessen noch ausgiebig die Ankunft einer international besetzten Fünfergruppe im Camp beobachten. Seine Augen verfolgen aufmerksam das beschäftigte Treiben der Neuankömmlinge. Dann beginnt er eine Runde nach der anderen um die Feuerstelle zu laufen und ist ausgelassen und fröhlich. Natürlich bekommt er allseitige Aufmerksamkeit. Wir erleben, wie unser Sohn auftaut, mit fremden Menschen herumschäkert und gar nicht mehr ins Bett will. Da haben sich alle Anwesenden das Flusstal herauf geschunden, sind stolz darauf den langen Marsch geschafft zu haben und freuen sich auf unberührte Wildnis zwischen Gletschern und Bären und werden dann von einem lärmenden Kind begrüßt! Doch der Abend ist noch jung. Bei einem Kind soll es heute nicht bleiben. Während er sich im Zelt noch wild gegen das Zubettgehen sträubt, bekommt Lennart Gesellschaft, denn es trifft gerade eine junge Familie mit zwei Söhnen im Grundschulalter ein. Da die Kinder selbst laufen müssen, haben sie die Strecke vom Parkplatz bis hierher in zwei Tagen zurückgelegt. Kein Wunder, dass die Kinder hungrig und müde sind.
Der Dauerregen
Das Camp ist jetzt zum Wochenende hin richtig voll geworden. Die guten Zeltplätze, circa sechs an der Zahl, sind weg. Natürlich bleiben die meisten Wanderer nur zwei, maximal drei Nächte und gehen dann das Tal wieder zurück. Die aus Kanadiern, Spaniern und Engländern zusammengewürfelte „Seilschaft“ macht angesichts des spätabends einsetzenden Dauerregens einen sehr unentschlossenen Eindruck. Offenbar kann man sich nicht einigen, welche Route am morgigen Tag genommen werden soll. Da ich nach unserer Wanderung gefragt werde, beschreibe ich kurz die heute gegangene Tour und rate, falls es morgen weiter regnen sollte, lieber durch die Endmoränen Landschaft des Kaskawulsh Gletschers zu dessen Gletscherzunge zu laufen. Starker Dauerregen setzt ein und die Runde am Feuer wird schnell kleiner. Auch nachts hört das Getrommel auf unserem Zeltdach nicht auf. Der nächste Morgen bringt Unruhe ins Lager. Die andere Familie hat mit ihrem Fernglas im Canada Creek eine Grizzlybärin mit zwei Jungen gesichtet. Glücklicherweise ist das heute nicht unsere Richtung. Da wegen dieser Bärin schon andere Bereiche des Parks für gesperrt erklärt wurden, sind wir froh, den Rückweg antreten zu können. Unterwegs werden wir von den fünf jungen Menschen eilig überholt, die heute eigentlich irgendwo in Richtung Gletscher unterwegs sein wollten. Wahrscheinlich haben der Regen und die Bären am Morgen schnell zu einer einmütigen Entscheidung für einen Rückzug geführt. Natürlich kann es in diesem Park aufgrund der starken Präsenz von Bären immer zu unerwarteten Begegnungen in freier Wildbahn kommen. Jedoch ist es schon vernünftig und rücksichtsvoll, die aktuellen Aufenthaltsgebiete des Großen Braunbären zu meiden, wenn diese schon bekannt sind. Der Mensch hat in den letzten Jahrhunderten den Lebensraum dieser Spezies durch Landerschließungen schon zuviel eingeengt. Ein Grizzlybär – das Symbol für eine unberührte Wildnis – steht immer mehr im Weg von Haus- und Grundstückseigentümern, Farmern und Firmen, welche die Ressourcen des Landes nutzen wollen.
Schneller als gedacht sind auch wir wieder zurück am Parkplatz. Schuld daran ist Lennart. Am dritten aufeinanderfolgenden Tag im Rucksack sagt er uns lauthals seine Meinung zur Sache. Es ist schwer, mit Manuela Schritt zu halten, deren Ohren von Lennarts Gebrüll schmerzen müssen. Trotz der Distanz, die wir heute wieder zu bewältigen haben, legen wir keine mehrstündige Pause ein, wie sie Lennart eigentlich benötigte. Erst auf den letzten zwei Kilometern übermannt ihn der Schlaf. Wir nehmen uns schuldbewusst vor, bei Wanderungen zunächst nur noch Tagestouren mit langen Pausen für ihn zu unternehmen. Dass der Rhythmus unseres Sohnes nun wieder im Mittelpunkt steht, ist selbstverständlich.
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